Entwicklung des Sorgerechts seit 2009

Sorgerecht in Deutschland
Eltern minderjähriger Kinder haben das Recht und die Pflicht, sich um ihr Kind zu sorgen. Dieses Sorgerecht wird durch das Deutsche Grundgesetz nach Artikel 6 Absatz 2 und 3 als Elternrecht geschützt. Dabei steht im Mittelpunkt der elterlichen Sorge das Kindeswohl. Welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um ein Einhalten des Kindeswohls zu gewährleisten, ist im Bürgerlichen Gesetzbuch festgelegt. Danach haben Kinder das Recht gewaltfrei und ohne seelische Verletzungen erzogen zu werden (Artikel 1631 Absatz 2 BGB).
Neben dem Begriff des Sorgerechts gibt es im deutschen Familienrecht noch das Umgangsrecht. Während das Sorgerecht auf die Versorgung des Kindes abzielt, bezieht sich das Umgangsrecht auf den Kontakt zwischen Kind und Elternteilen. Im Unterschied zum Sorgerecht ist das Umgangsrecht allerdings nicht streng gesetzlich reguliert. Die Ausgestaltung des Umgangs liegt im Ermessen der Eltern und wird zwischen ihnen vereinbart.
Streitfälle um das Sorgerecht gemeinsamer Kinder sind nicht selten. Im Falle eines Scheidungsverfahrens kann jeder Elternteil die Übertragung des alleiniges Sorgerechts beantragen. Sorgerecht ist somit häufig eine Scheidungsfolge, die in der Regel im Verbund vom jeweiligen Familiengericht entschieden wird, das heißt gemeinsam mit der eigentlichen Scheidung.
Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die wichtigsten Änderungen und gerichtlichen Entscheidungen im deutschen Sorgerecht in den letzten zehn Jahren.
2010 – Bundesverfassungsgericht zum Sorgerecht unverheirateter Väter
Ein Vater hatte eine teilweise Entziehung des alleinigen Sorgerechts der Mutter und eine Übertragung des Aufenthaltsbestimmungrechts auf ihn selbst beantragt, da die Mutter mit dem Kind umziehen wollte. Zusätzlich beantragte er, entweder ihm das alleinige Sorgerecht zu übertragen oder ein gemeinsames Sorgerecht trotz fehlender Zustimmung der Mutter zu erwirken. In Anwendung der geltenden Rechtslage lehnte das Familiengericht die Anträge zurück, da zur Übertragung des Sorgerechts die Zustimmung der Mutter nötig sei. Grund für eine Entziehung des Sorgerechts der Mutter sah das Gericht nicht.
Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass das Vorgehen nach Artikel 1626a Absatz 1 Nr. 1 BGB, der die gemeinsame Sorge nur unter Zustimmung der Mutter gewährt, einen tiefgreifenden Eingriff in das Elternrecht des Vaters aus Artikel 6 Absatz 2 GG darstellt. Das Elternrecht des Vaters wird unverhältnismäßig hinter das der Mutter gestellt, ohne dass dies durch die Wahrung des Kindeswohls geboten sei.
Das Bundesverfassungsgericht ordnete an, dass das Familiengericht den Eltern die elterliche Sorge oder einen Teil davon gemeinsam übertragen soll, soweit zu erwarten ist, dass dies dem Kindeswohl entspricht. Dem Vater ist die alleinige Sorge oder ein Teil davon zu übertragen, wenn eine gemeinsame Sorge nicht in Betracht kommt und dies dem Kindeswohl am besten entspricht.
2013 – BGB zum gemeinsamen Sorgerecht nicht verheirateter Eltern
Der geänderte Artikel 1626a BGB, der zum 19.05.2013 in Kraft trat, schreibt vor, dass auf gerichtliche Anordnung nichteheliche Väter das gemeinsame Sorgerecht auch ohne Zustimmung der Kindesmutter erhalten können. Die Gesetzesänderung wurde schon 2010 vom Bundesverfassungsgericht entschieden, das die frühere Gesetzeslage des BGB als nicht verfassungsgemäß bewertete. Zuvor hatte bei unverheirateten Paaren automatisch die Mutter das alleinige Sorgerecht. Gegen den Willen der Kindesmutter konnte der Vater kein Mitsorgerecht erhalten; dies war nur möglich, wenn sich die Eltern einigten und das gemeinsame Sorgerecht gemeinsam beantragten.
Der Artikel „Elterliche Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern/Sorgeerklärungen“ bestimmt seit 2013, dass das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils das Sorgerecht an einen oder beide Elternteile überträgt, wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht. Werden keine Gründe vorgetragen, die der Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge entgegenstehen könnten, und liegen solche Gründe auch abgesehen davon nicht vor, steht die Vermutung, dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl nicht widerspricht. Die Gesetzesänderung bedeutet allerdings nicht, dass unverheiratete Eltern automatisch das gemeinsame Sorgerecht erhalten. Die Mutter erhält mit der Geburt das alleinige Sorgerecht, der Vater muss, wenn er dies wünscht, einen Antrag auf das gemeinsame Sorgerecht stellen. Eine andere Möglichkeit ist, dass Vater und Mutter gemeinsam, vor oder nach der Geburt des Kindes, beim Jugendamt erklären, dass sie das gemeinsame Sorgerecht ausüben wollen.
Die Gesetzesänderung hatte zur Folge, dass die Familiengerichte die gemeinsame elterliche Sorge grundsätzlich erst einmal anerkennen, wenn sie dem Kindeswohl nicht widerspricht. Diese Neuerung macht es nichtehelichen Vätern im Vergleich zur bisherigen Gesetzeslage viel leichter, das gemeinsame Sorgerecht auch gegen die ausdrückliche Zustimmmung der Mutter zu erhalten und so auch rechtlich Verantwortung für das gemeinsame Kind zu übernehmen. Damit schloss sich Deutschland der Rechtsprechung europäischer Nachbarländer an, die den Sachverhalt bereits früher auf diese Art gesetzlich geregelt hatten.
Der große Unterschied zu vorher ist also, dass der Vater das Sorgerecht zwar weiterhin beim Familiengericht beantragen muss, dort jedoch nicht mehr verpflichtet ist nachweisen, dass das gemeinsame Sorgerecht das Kindeswohl fördert. Stattdessen gilt die sogenannte „negative Kindeswohlprüfung“, das bedeutet, das Gericht erteilt das gemeinsame Sorgerecht, wenn dieses dem Kindeswohl nicht widerspricht. Das ist dann der Fall, wenn zwischen den Eltern
– eine ausreichend tragfähige soziale Beziehung,
– ein Mindestmaß an Übereinstimmung und
– die grundsätzliche Fähigkeit zum Konsens besteht.
Vor der Entscheidung muss das Gericht der Mutter die Möglichkeit geben, innerhalb einer mehrwöchigen Frist Einwände gegen das gemeinsame Sorgerecht einzulegen. Falls die Mutter keine Gründe vorträgt, entscheidet das Gericht ohne Anhörung des Jugendamts oder der Eltern.
Die Gesetzesneuerung gibt dem Vater außerdem die Option einer Überprüfung durch das Gericht, wenn er der Meinung ist, ihm solle das alleinige Sorgerecht (ohne Zustimmung der Mutter) erteilt werden. Dieses wird dann erteilt, wenn es „dem Wohl des Kindes am besten entspricht“.
Der neue Artikel 1626a BGB gilt für alle, das heißt auch für alte Fälle, in denen nichteheliche Väter von der Kindesmutter von einer gemeinsamen Sorge ausgeschlossen wurden.
2015 – Bundesverfassungsgericht zur Entziehung des Sorgerechts bei elterlichem Fehlverhalten
Das Bundesverfassungsgericht hob die Entscheidung des Amtsgerichts von 2013 auf, zwei getrennt lebenden Eltern das Sorgerecht für ihre 2013 geborene Tochter zu entziehen. Der aus Ghana stammende Vater, der seit 2012 in Deutschland lebt, hatte gegen das Urteil geklagt. Die gemeinsame Tochter wurde kurz nach ihrer Geburt in eine Pflegefamilie gebracht, der Vater hatte begleitete Umgangskontakte.
Das Bundesverfassungsgericht sah den Vater in seinem Elternrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 GG verletzt und sprach ihm das Sorgerecht zu. Die Begründung hierfür war, dass Eltern ihre Erziehungsfähigkeit nicht erst beweisen müssen. Das Gericht darf nur dann eingreifen, wenn das Kindeswohl gefährdet ist.
2016 – BGH zum gemeinsamen Sorgerecht nicht verheirateter Eltern
Zum 15.06.2016 entschied der BGH, wie mit dem gemeinsamen Sorgerecht bei nicht verheirateten Eltern umzugehen ist. Auch bei der negativen Kindeswohlprüfung (Artikel 1626a Absatz 2 BGB) ist wichtigster Maßstab für die richterliche Entscheidung das Kindeswohl. Gründe, die einer gemeinsamen elterlichen Sorge widersprechen, sind schon dann gegeben, wenn nur die Möglichkeit besteht, dass das gemeinsame Sorgerecht nicht mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Da die gemeinsame elterliche Sorge dem Bedürfnis des Kindes nach einer Beziehung zu beiden Elternteilen entspricht, müssen Gründe vorgebracht werden, die dem widersprechen. Den Eltern ist die Sorge auch gemeinsam zu übertragen, wenn sich nicht feststellen lässt, ob die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl eher entspricht als die alleinige Sorge der Mutter. Der Antrag auf gemeinsames Sorgerecht darf nur abgelehnt werden, wenn ein solches mit dem Kindeswohl nicht vereinbar ist. Ausschlaggebend für das Kindeswohl sind nach Artikel 1671 Absatz 1 BGB
– die Erziehungseignung der Eltern,
– die Bindungen des Kindes,
– die Prinzipien der Förderung und der Kontinuität,
– die Beachtung des Kindeswillens.
2017 – BGH zum Paritätischen Wechselmodell
Das sogenannte paritätische Wechselmodell sieht vor, dass die Betreuung des gemeinsamen Kindes durch Mutter und Vater zu etwa gleichen zeitlichen Anteilen erfolgt, das heißt, das Kind verbringt zum Beispiel abwechselnd eine Woche bei der Mutter und eine Woche beim Vater. 2017 ordnete der Bundesgerichtshof an, dass die Gerichte die Betreuung im Wechselmodell auch gegen den Willen eines Elternteils durchsetzen dürfen.
Das Urteil des Bundesgerichtshofs erfuhr viel Beachtung, da in der Vergangenheit viele Gerichte in ähnlichen Fällen negativ entschieden. Zugleich bekräftigte der Bundesgerichtshof in seinem Urteil aber, dass die Betreuung im Wechselmodell nur unter Einhalten des Kindeswohls bestimmt werden darf, das heißt, es muss eine ausreichend tragfähige Kommunikation zwischen den Elternteilen möglich sein.